Was wäre, wenn die Hightech-Anzüge nie verboten worden wären?

by Daniela Kapser 0

June 12th, 2022 Deutsch

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Ausgabe 2021 des SwimSwam Magazins mit dem Jahresrückblick. Abonnieren können Sie das Magazin hier.

Erinnert Ihr Euch noch noch an die Hightech-Schwimmanzüge, die Supersuits? Fast 12 Jahre ist es nun her, dass sie aus dem Schwimmsport verbannt wurden.

Aber zwischen 2008 und 2009 hatten sie einen enormen Einfluss, da sie in dieser Zeit von fast allen Spitzenschwimmern getragen wurden und zu zahlreichen Weltrekorden führten. Einige dieser Rekorde sind heute noch gültig, wie die von Cesar Cielo über 50 und 100 Freistil, von Michael Phelps über 400 IM und von Federica Pellegrini über 200 Freistil.

Die Wirkung der Anzüge ist unbestritten. Aber was wäre, wenn die Schwimmer immer noch in diesen Anzügen antreten dürften? Wie schnell wären ihre Zeiten dann?

Das Erbe der Hightech-Anzüge

2008 brachte Speedo den LZR Racer Anzug auf den Markt, der das bestehende Material verbesserte, die Teflon-Beschichtung der vorherigen Modelle  wurde ersetzt. Je mehr Polyurethan die Anzüge hatten, desto weniger Widerstand erzeugten sie. Das Ergebnis war, dass in jenem Jahr 55 Weltrekorde auf der 50m-Bahn aufgestellt wurden – 25 davon bei den Olympischen Spielen in Peking.

2009 gingen andere Hersteller wie Jaked und Arena noch weiter und stellten ihre Anzüge komplett aus Polyurethan her, damit die Schwimmer noch schneller durchs Wasser gleiten konnten. In diesem Jahr wurden 67 Weltrekorde auf der Langbahn aufgestellt, 43 davon bei den Weltmeisterschaften in Rom – so viele wie nie zuvor.

Anfang 2010 verbot der Weltschwimmverband FINA diese Anzüge für immer. Jetzt dürfen Schwimmanzüge nur noch aus textilem Material hergestellt werden, nicht mehr aus Polyurethan.

Einige der schnellsten Leistungen aller Zeiten wurden in der Supersut-Ära erzielt. Und einige von ihnen scheinen unserer Zeit immer noch voraus zu sein, wie die Weltrekorde über 200 Freistil der Männer (Paul Biedermann aus Deutschland, 1:42,00), über 400 m Lagen der Männer (Michael Phelps aus den USA, 4:03,84) und über 200 m Schmeterling der Frauen (Liu Zige aus China, 2:01,81).

Aber der Schwimmsport hat sich weiterentwickelt, und die meisten der in den Hightech-Anzügen aufgestellten Weltrekorde wurden bereits übertroffen. Von den 34 offiziell von der FINA anerkannten Einzeldisziplinen wurden seit 2010 25 Weltrekorde aufgestellt.

In der SwimSwam Magazine-Ausgabe 23 brachten wir den Artikel “Was wäre, wenn es die Superanzüge nie gegeben hätte?” Wir haben versucht, Fragen zu beantworten wie: Wenn die Schwimmer in den Jahren 2008-2009 keine Technologieanzüge benutzt hätten, wie wären ihre Zeiten dann? Wie viele Weltrekorde aus dieser Zeit würden noch stehen?

Jetzt gehen wir in die andere Richtung. Was wäre, wenn die Superanzüge im Jahr 2010 nicht verboten worden wären? Wie schnell wären die heutigen Top-Schwimmer dann? Sicherlich gäbe es einige sehr schnelle Zeiten. Mithilfe einer statistischen Analyse können wir uns ein Bild von diesem hypothetischen Szenario machen. Und in der Tat würden wir Zeugen einiger ziemlich erstaunlicher Leistungen werden.

Statistische Analyse

Werfen wir einen Blick auf die Entwicklung der 100 Freistil der Männer. Die folgende Grafik zeigt die Durchschnittszeit der schnellsten 100 Schwimmer in jedem Jahr seit 1990.

Durchschnittliche Zeit der schnellsten 100 Schwimmer über 100 Freistil der Männer seit 1990

 

Das abnehmende Muster ist offensichtlich, wie wir es erwartet haben, aber es gibt noch einen weiteren interessanten Aspekt.

Alle vier Jahre gab es einen dramatische Verbesserung  der Durchschnittszeit. Dies ist kein Zufall, da es mit den olympischen Jahren übereinstimmt. Die einzige Ausnahme ist der Zeitraum 2008-2009: Die Zeiten sinken von 2007 auf 2008 und noch stärker von 2008 auf 2009, was ungewöhnlich ist, da 2009 kein Olympiajahr war. Natürlich waren die Superanzüge die Ursache.

Aus statistischer Sicht können wir den Trend im Laufe der Jahre und den saisonalen Effekt alle vier Jahre anhand der Daten von 1990 bis 2007 und ab 2010 abschätzen, um die Zeit aus dem Zeitraum 2008-2009 unter “normalen” Bedingungen – also ohne Superanzüge – zu schätzen.

Cesar Cielos Weltrekord über 100 m Freistil aus dem Jahr 2009 liegt beispielsweise bei 46,91, aber seine geschätzte Zeit ohne Anzug beträgt 47,78, da die durchschnittliche Verbesserung durch den Anzug auf 0,87 geschätzt wird. Auf diese Weise können wir die Auswirkungen der Hightech-Anzüge in jeder Wettkampfdisziplin einschätzen.

Das statistische Modell heißt ARIMA (Autoregressive Integrated Moving Average), eines der am häufigsten verwendeten Modelle zur Anpassung von Zeitreihendaten.

Da die Anzüge von 2009 schneller waren als die von 2008, wurden für jedes dieser Jahre unterschiedliche Auswirkungen berücksichtigt. Bei den Herren gab es Schwimmer, die es vorzogen, nur den Beinanzug zu tragen, und andere, die den Ganzkörperanzug verwendeten. Es wurde eine sehr sorgfältige Datenanalyse durchgeführt, um den Prozentsatz der Schwimmer zu schätzen, die jeden Anzugtyp bei den einzelnen Wettkämpfen benutzten, wobei Daten von den wichtigsten Wettkämpfen verwendet wurden.

In dieser Analyse gehen wir davon aus, dass die Schwimmer, wenn sie diese Superanzüge heute verwenden könnten, die schnellsten verfügbaren Anzüge wählen würden – die Ganzkörperanzüge aus dem Jahr 2009, die vollständig aus Polyurethan bestanden.

Es ist wichtig zu beachten, dass wir nur die durchschnittliche Wirkung der Anzüge berechnen können. Die Wirkung der Anzüge könnte von Schwimmer zu Schwimmer variieren, und die individuelle Wirkung lässt sich ohne ein geplantes Experiment nicht messen.

Die folgenden Tabellen zeigen, wie die Weltrekorde aussehen würden, wenn die Anzüge heute zugelassen wären.

Frauen, alle Wettkampfstrecken, 50 m Bahn

Event Swimmer Adjusted WR Year
50 freestyle Sarah Sjostrom (SWE) 23.24 2017
100 freestyle Sarah Sjostrom (SWE) 50.91 2017
200 freestyle Ariarne Titmus (AUS) 1:51.82 2021
400 freestyle Katie Ledecky (USA) 3:54.33 2016
800 freestyle Katie Ledecky (USA) 8:01.33 2016
1500 freestyle Katie Ledecky (USA) 15:15.27 2018
50 backstroke Liu Xiang (CHN) 26.49 2018
100 backstroke Kaylee McKeown (AUS) 56.47 2021
200 backstroke Regan Smith (USA) 2:01.72 2019
50 breaststroke Benedetta Pilato (ITA) 28.57 2021
100 breaststroke Lilly King (USA) 1:02.67 2017
200 breaststroke Tatjana Schoenmaker (RSA) 2:16.36 2021
50 butterfly Sarah Sjostrom (SWE) 23.95 2014
100 butterfly Sarah Sjostrom (SWE) 54.52 2016
200 butterfly Liu Zige (CHN) 2:01.81 2009
200 IM Katinka Hosszu (HUN) 2:03.89 2015
400 IM Katinka Hosszu (HUN) 4:23.95 2016

Männer, alle Wettkampfstrecken, 50 m Bahn

Event Swimmer Adjusted WR Year
50 freestyle Caeleb Dressel (USA) 20.49 2019
100 freestyle Caeleb Dressel (USA) 46.09 2019
200 freestyle Yannick Agnel (FRA) 1:41.73 2012
400 freestyle Ian Thorpe (AUS) 3:37.97 2002
800 freestyle Zhang Lin (CHN) 7:32.12 2009
1500 freestyle Sun Yang (CHN) 14:26.17 2011
50 backstroke Kliment Kolesnikov (RUS) 23.26 2021
100 backstroke Ryan Murphy (USA) 50.77 2016
200 backstroke Ryan Lochte (USA) 1:50.88 2011
50 breaststroke Adam Peaty (GBR) 25.31 2017
100 breaststroke Adam Peaty (GBR) 55.61 2019
200 breaststroke Anton Chupkov (RUS) 2:03.48 2019
50 butterfly Andriy Govorov (UKR) 21.72 2018
100 butterfly Caeleb Dressel (USA) 48.35 2021
200 butterfly Kristof Milak (HUN) 1:48.80 2019
200 IM Ryan Lochte (USA) 1:51.54 2011
400 IM Michael Phelps (USA) 4:00.31 2008

Einige der “neuen” Weltrekorde wären unfassbar schnell. Katie Ledecky wäre nahe dran, die Acht-Minuten-Marke über 800 Freistil der Frauen zu knacken. Sarah Sjostrom würde magische Grenzen knacken: 51 Sekunden über 100 Freistil und 24 Sekunden über 50 Schmetterling bei den Frauen sowie Adam Peaty über 100 Brust der Männer in unter 56 Sekunden.

Interessanterweise würden zwei der Weltrekorde chinesischer Schwimmer aus dem Jahr 2009 auch heute noch Bestand haben (800 Freistil der Männer durch Zhang Lin und 200 Schmetterling der Frauen durch Liu Zige), denn seither ist niemand mehr auch nur annähernd in der Lage, diese Zeiten zu unterbieten, selbst wenn er einen  Superanzug tragen würde.

Und dann ist da noch der Fall von Michael Phelps. Im Jahr 2008 stellte er in einem Speedo LZR-Beinanzug den Rekord über 400 IM der Männer auf. Wenn er die 2009 erhältlichen Vollpolyurethan-Anzüge getragen hätte, hätte er möglicherweise die 4-Minuten-Marke geknackt.

Solange diese “neuen” Weltrekorde selbst in einem Superanzug zu schnell erscheinen, um real zu sein, sollten wir daran denken, dass die Schwimmer 2009 erstaunliche Leistungen erzielten, die ihrer Zeit weit voraus waren. Die Wirkung der Anzüge war enorm.

 

 

 

 

 

 

 

 

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